Leonid Pluschtsch

Pluschtsch, Leonid Iwanowytsch (26. April 1939, Naryn, Kirgisische SSR, UdSSR — 4. Juni 2015, Bessèges, Frankreich).

Mathematiker, Literaturwissenschaftler.

Wegen der bei Leonid in Kindheit diagnostizierten Knochenschwindsucht übersiedelte die Familie, dem ärztlichen Rat folgend, nach Odessa, wo das Kind noch einige Jahre bettlägerisch war. 

Nach dem Schulabschluss studierte Leonid Pluschtsch drei Jahre lang an der Fakultät für Physik und Mathematik der Universität Odessa. Dann unterbrach er das Studium, arbeitete ein Jahr als Dorfschullehrer und führte das Studium an der Fakultät für Mechanik und Mathematik an der Universität Kyjiw zum Diplomabschluss. Danach arbeitete Pluschtsch als Ingenieur und Mathematiker im Kibernetikinstitut bei der Akademie der Wissenschaften der Ukrainischen SSR. 

In der Mitte der 1960er machte sich Pluschtsch in der Dissidentenszene bekannt. Er pflegte Kontakte zu den Oppositionellen in Kyjiw und Moskau, zu den Vertretern der ukrainischen, jüdischen und krimtatarischen Nationalbewegung. Er selbst war in diesen Kreisen nicht nur als Autor der in Samwydaw (ukrainische Bezeichnung für die Samisdattätigkeit) publizierten Texte, sondern auch als Übersetzer der Texte der ukrainischen Oppositionellen ins Russische bekannt. Pluschtsch äußerte offen seine Unzufriedenheit mit der sowjetischen Politik, indem er an unterschiedliche Institutionen und in die Zeitungen schrieb. Er sammelte Informationen über die Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine und publizierte Meldungen darüber in den Dissidentenzeitschriften Chronik der laufenden Ereignisse (russisch: Chronika tekuschtschich sobytij) und Das ukrainische Nachrichtenblatt (ukrainisch: Ukrajinskyj wisnyk) 

Pluschtsch gehörte zu der Gruppe der Andersdenkenden, die an den reformierten Sozialismus glaubten, an die Möglichkeit, die sozialistische Idee zu ihren ursprünglich deklarierten Idealen zurückzubringen. Der Dissident stammte zwar aus dem russischsprachigen Milieau, engagierte sich aber aktiv für den Schutz der ukrainischen Sprache und der ukrainischen Kultur.

Seine Stelle im Kibernetikinstitut verlor Pluschtsch nach dem Artikel, den er in die allsowjetische Zeitung "Komsomolskaja prawda" geschickt hatte und in dem er politische Regimehäftlinge in Schutz nahm.

1969 wurde Leonid Pluschtsch Mitglied der Initiativgruppe für die Verteidigung der Menschenrechte in der UdSSR, der ersten offen handelnden unabhängigen Bürgervereinigung in der Sowjetischen Union.

Am 15. Januar 1972, im Rahmen der Geheimdienstoperation "Block", wurde Pluschtsch verhaftet, ihm wurden "antisowjetische Agitation und Propaganda" inkriminiert. Schließlich wurde er zum Opfer der Strafpsychiatrie: mit der Diagnose "langsam verlaufende Schizophrenie" gelang er in die zwanghafte psychiatrische Behandlung. 

Im Westen begann die Kampagne für die Befreiung von Leonid Pluschtsch: offene Briefe wurden unterzeichnet, Straßenproteste und Konferenzen organisiert. Die westlichen Mathematiker haben ihren in der Psychiatrie verhafteten Kollegen konsequent unterstützt. Zentralfigur in der Befreiungsbewegung von Pluschtsch war seine Frau Tatjana Zhytinikowa, die in der UdSSR weiter lebte. Schließlich gab die Sowjetmacht nach: 1976 wurde Leonid Pluschtsch aus der Psychiatrie entlassen und konnte mit der Familie nach Frankreich auswandern, wo die sowjetische psychiatrische Expertise von den französischen Ärzten widerlegt wurde.

Im Exil nahm Leonid Pluschtsch die Menschenrechtstätigkeit wieder auf, er wurde ausländischer Vertreter der Ukrainischen Helsinki-Gruppe. Auf Grund der noch frischen Erinnerungen an seine Dissidentenzeit und seine zwanghafte Psychiatriebehandlung verfasste er das Buch "Im Karnewal der Geschichte" (ukrainisch: U karnawala istoriji. Swidtschennja), das in mehreren Sprachen ediert wurde (deutsch 1981 im Wiener Fritz Molden Verlag). Die noch in sowjetischer Lebensperiode begonnenen literaturwissenschaftlichen Forschungen setzte er im Ausland fort.

Trotz der Perestrojka-Zeit und des Zerfalls des Sowjetimperiums blieb Leonid Pluschtsch bis Lebensende im Exil. Ab 1990 jedoch kam er mehrmals in die Ukraine. Gestorben ist er in Frankreich, wo er auch seine letzte Ruhestätte fand. 

 
Leonid Pluschtsch 

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Warum ist es wichtig, aktuell über Dissidenten zu sprechen

Vorwort des Redaktors der Historische Wahrheit, Vakhtang Kipiani